top of page

Selbstmitleid überwinden - Gelassenheit individualpsychologisch 2/2

Selbstmitleid überwinden: Gelassenheit aus Individualpsychologischer und Christlich-seelsorgerischer Sicht betrachtet. Gerade Selbstmitleid, eine Form der Selbstliebe, verhindert Seelenfriede. Teil 2/2

Selbstmittleid überwinden - aufstehen - Krone richten - weiter gehen

Inhalt



Selbstmittleid hat viele Gründe und Motive. Es hat eine sehr selbstzerstörerische Wirkung auf Körper und Seele. Man konzentriert sich nur auf sich selbst, seine Rechte, Defizite und macht anderen Vorwürfe. Selbstmitleid ist eine mentale Schlacht im Kopf. Nachdenklich sein und krankhaft grübeln sind zwei verschiedene Paar Schuhe. Nahdenken im positiven Sinne ist gut und richtig. Grübeln ist negativer Stress, wo Bitterkeit, Neid und Selbstmitleid gepflegt wird.


Das Motiv von Selbstmitleid ist in erster Linie, dass wir uns zurück ziehen wollen, um in unserem Leid zu baden. Das ist menschlich, jedoch sehr zynisch. Letztendlich ist uns auch besser geholfen, wenn wir aufhören uns selbst zu bemitleiden und beginnen Verantwortung zu übernehmen.


Mit Mutter Teresas Worten:

«Selbstmitleid ist eine Ohrfeige für die, denen es wirklich schlecht geht.»

Wie können wir oder Angehörige wirklich helfen und begegnen? Was kann der Betroffene selbst tun?


Menschen mit Selbstmitleid…

  • … brauchen Einsicht in ihr Leiden

  • … brauchen Einsicht in ihre unverstandenen Ziele

  • …können lernen, auch das positive zu sehen

  • Dem Selbstmitleid widerstehen!

  • … kann die paradoxe Intention helfen

  • Die Umdeutung der Lebensprobleme

  • Wir können unsere eingefahrenen Denkmuster ändern

  • … kommt aus der Ich-Sucht heraus, wenn er lernt, sich um andere zu kümmern

  • … muss ernstlich eine Änderung wollen


Das neurotische Selbstmitleid ist im Lebensstil des Menschen wiederzufinden. Es prägt sein Denken, Fühlen und Handeln, seine Weltanschauung und Wahrnehmung. Man schlüpft in die Rolle des Aschenputtels, Sündenbocks, schwarzen Schafs, des Im-Stich-gelassenen, Waisenkindes, Dummkopfes, Betrogenen oder Opfers. Jeder Klagesüchtige hat seine individuellen Muster. Aber alles findet sich in der Benachteiligung und Unrecht, wodurch er sich minderwertig, ungeliebt und zurückgesetzt fühlt. Darauf reagiert er zwanghaft mit Bedauern, was ihn schlussendlich isoliert und einsam macht.


Der Mensch der sich selbst erfolgreich bemitleidet, hat das Streben nach Unglücklich-Sein mit dazu gelernt. Es ist eine erlernte Neurose*. Hierbei wird alles Positive schamlos und rücksichtslos negativ betrachtet. Individualpsychologisch hat der Betroffene unbewusst alles in seinem Leben so arrangiert, dass sein Klagen, auch begründbar ist. Der chronifizierte negative Blick und Bewertung, zeigt sich in sich wiederholenden Mustererfahrungen mit den Eltern, der Ehe/Partnerschaft, der Arbeit, der Welt und des Lebens selbst. Es wird sehr schwierig solchen Menschen zu helfen, weil die Hilfe, der Helfende, der Hilfesuchende an sich auch negativ ausgelegt werden wird.

*Neurosen sind psychische Störungen, bei denen keine körperlichen Ursachen vorliegen. Zu den häufigsten Symptomen zählen Ängste, Phobien und depressive Verstimmungen, aber auch körperliche Symptome (z.B. Lähmungen) können auftreten.


Direktheit oder Subassertivität

Nach einer Theorie von Nico van der Voot gibt es assertive Menschen (to assert: sich behaupten) und subasservative (jmd. der sich nicht behauptet). Asservative Leute sind eher direkt, sagen was sie ehrlich denken, wollen und meinen, genieren sich nicht dafür.


Subasservative halten sich stehts zurück. Sie lügen nicht, aber sagen auch nicht wirklich was sie denken, wollen oder meinen. Man schweigt, obwohl man reden möchte. Jene sind überzeugt, dass andere grosszügig ihre Liebe verdienen, aber sie selbst zu wenig empfangen, dass sie mit ihren Meinungen, Gedanken nicht sein könnten, dazugehören dürften. Sie halten ihre eigene Güte für andere sehr hoch, bleiben aber mit Groll zurück und bemitleiden sich selbst jedoch stark. Das kann unbewusst geschehen. «Eigentlich» ist ein Wort das solche Menschen häufig benutzen. Jene sagen ja, wollen aber eigentlich nein sagen. Da der Gewinn zu gefallen höher erscheint, als der Preis des Risikos, der Ablehnung, dass nicht diese Liebe oder Toleranz, die nötig für seine Meinungsäusserung wäre, da sein könnte. Man ärgert sich jedoch sehr über das Zurückhalten, fühlt sich jedoch ohnmächtig und verfällt schnell mal ins Selbstmitleid.


Leider erkenne ich mich in der Subassertivität sehr gut wieder. "Menschenfurcht" habe ich sie stets genannt und hätte sie nie mit Selbstmitleid in Verbindung gebracht. Ich bin jedoch auch eine Erstgeborene und es war sehr tröstlich zu erkennen, wie sehr ich mich in meiner Gesinnung irre, wie Sie im den folgenden Text lesen können.


Wenn man als Erwachsener dem Selbstmitleid verfällt, reagiert man wie ein Kind. Gedanken wie «ich werde vernachlässigt, abgelehnt, benachteiligt, nicht geliebt» kreisen im Kopf, «ich muss mich selbst bedauern». Wenn das Schwarzsehen chronisch wird, verfestigt es sich so im Menschen, dass es zu seiner absoluten Wahrheit wird. Seine Welt wird nur noch durch die dunkle Brille wahrgenommen. Ermutigungen werden wie Gummibälle an seiner schwarzen Wand sofort zurückgeworfen.


Selbstmitleid wird oft im Kindesalter «erlernt». Wenn ein Kind sich verletzt fühlt, weil es sich benachteiligt, weniger beachtet oder ungeliebt erlebt, reagiert es automatisch mit Selbstmitleid. Es weint aus Mitleid mit sich selbst.


Besonders beim Negativen Vergleichen wird der eigene Wert herabgesetzt. Wenn das Kind sich mit anderen Kindern misst und zur Überzeugung kommt, dass die Scheidung der Eltern hinderlich, andere Eltern netter sind, es schulisch nicht so gefördert wird oder schlichtweg kein Wunschkind ist etc., glaubt es Anerkennung und Zuwendung nicht verdient zu haben! Es wird auf jede Kritik und Hindernis mehr und mehr mit Selbstmitleid reagieren.


Weil man sich verletzt fühlt, empfindet auch der Erwachsene im Selbstmitleid Mitleid mit sich selbst, so wie er mit anderen Mitleid haben würde. Es ist Selbsttröstung in Bezug auf das bemitleidenswerte Schicksal, das einem widerfährt. Man gibt sich so selbst Trost und Liebe und erwartet Rücksicht von der Umgebung, dass sie ihn entschuldigt und ihm mit Zuwendung begegnet.


Das Selbstmitleid des ältesten Sohnes

In der Bibel gibt es die Geschichte der verlorenen Sohnes, wo der Erstgeboren sich gegenüber der Liebesbezeugung seines Vaters zum jüngeren Sohn benachteiligt fühlt. Im Teil 1 von Gelassenheit individualpsychologisch wurde sie bereits erwähnt. Sie können sie in Lukas 15, 11-32 nachlesen.


Es gibt viele Kinder, besonders Erstgeborene, die versuchen die Gunst der Eltern durch Gehorsam, Fleiss, Pflichtbewusstsein und Anerkennung zu erringen. Wenn dann jüngere Geschwister aufbrechen, rebellieren, trotzen, Nerven und Geduld kosten, danach mit grosser Freude und Erleichterung jedoch wieder in die Arme der Eltern aufgenommen werden, erschüttert das jenes Weltbild der Älteren.


Wie kann es sein, dass dieser Tu-nichts-gut trotz allem diese Liebe verdient? Der Älteste kommt oft zur Lebensüberzeugung: Liebe ist an gute Taten gebunden. Seinen Zorn und Bitterkeit über diese Ungerechtigkeit gegenüber der Behandlung jüngerer Geschwister kann er nicht entladen. Das gehört sich ja nicht. Also wohin mit dem Schmerz des Verlorenen? So zerrinnt er im Selbstmitleid.


Was macht denn dieses Verlorenen-Sein aus? Geglaubte Ungerechtigkeit. Er ist verärgert, gekränkt, neigt zum Nörgeln und Vorurteilen, fühlt sich ausgenutzt, ist neidisch, eifersüchtig und verbittert, auf die Jüngeren, die weniger Erwartungen erfüllen möchten, sondern sich selbst verwirklichen. Er plagt sich mit Vorwürfen und einer Begierde nur einmal etwas Ungehorsames zu tun. Selbstgerechtigkeit und Selbstmitleid gründen aus einem Herz, das glaubt, nie erhalten zu haben, was ihm zusteht.


So tröstend und wohlwollen sich Selbstmitleid geben kann, so demoralisierend und entmutigend ist es genauso. Jeder Mensch ist immer mit sich selbst beschäftig. Jedem geht sein Schicksal am nächsten. Es bringt nichts sich darum selbst zu bedauern, dass andere sich näherstehen als uns. Selbst Jesus ist es nicht anders ergangen. Er wurde verleugnet und verraten. Wieso sollte es uns besser ergehen? Die Realität ist nicht die heile Welt. Doch wir haben die Wahl uns fallen zulassen und niemandem zu helfen oder aktiv und kreativ negative Lebensumstände zu meistern.


Der Klagesüchtige hat es sich zur Gewohnheit gemacht alles negativ zu bewerten. Deshalb sollte man ihn dazu ermutigen die Gewohnheit zu ändern in dem er z. B. jeden Tag 5-10 positive Dinge nennt, für die er dankbar sein kann (vor Gott). Freiwilliges Danken ändert unser Denken. Wer dankbar ist, kann nicht sorgenvoll sein! Besonders Christen dürfen sich vergegenwärtigen, dass ihre Klagen Vorwürfe gegen den lebendigen Gott sind. Wir dürfen um Gottes Kraft bitten, dass er hilft alte Gewohnheiten durch Neue zu ersetzten. Alles was er von uns braucht, ist unser Wille. Jesus fragt den Kranken: «Willst du gesund werden?». Der Wille zur Genesung ist entscheidend.


1.1. Mitleid vs. Mitgefühl

Wenn wir mit jemandem Mitleid haben, leiden wir mit ihm mit. Das ist nicht besonders schmeichelhaft für den Betroffenen, aber auch nicht völlig schlecht. Es zeigt, dass «aufrechte» Mitleid-habenden am anderen wirklich interessiert sind und sein Leid annehmen. Wir leiden so mit, als würde es uns selbst widerfahren. Sie bürden sich selbsschädigenderweise etwas auf.


Heute könnte man mitleidig, mehr mit wehleidig übersetzten. Man leidet nicht mehr wirklich mit, sondern be-mitleidet den anderen um sein Schicksal/sein Sein, heuchelt vielleicht sogar ein Gefühl, schaut auf den anderen herab, der arme Kerl, und das verletzt wiederum eher. Darin liegt keine Gleichwertigkeit, keine Würde.


Das gilt auch besonders, wenn wir mit Kinder Mitleid haben. Der Bemitleider zeigt so, dass er den anderen für schwach hält, nimmt ihm den Lebensmut, verleitet dazu schwierigen Situationen aus dem Weg zu gehen, ermuntert zum Selbstmitleid. Das Kind oder der Leidende lernt durch Mitleid andere dazu zu bringen, dass sie für ihn die Probleme lösen, den ihm selbst ist ja nicht mehr durch sich selbst zu helfen. Spielt man mit, nimmt man diesen Personen die Chance zu wachsen, besser zu werden, selbständiger und selbstbewusster.


Geteiltes Leid ist halbes Leid, kennt der Volksmund.

Stattdessen braucht es Mitgefühl, das Teilen der Leid-Gefühle, nicht des Leides selbst! Es braucht Ermutigung! "Ja es ist ein scheiss Gefühl, du bist traurig und erschöpft, was verständlich ist. Ich fühle mit dir. Dennoch weiss ich, dass du stark bist und einen Weg finden wirst, diese Sache zu überstehen. Du wirst nachher stärker sein als zuvor. Ich glaube an dich! Ich bin da wenn du moralische Unterstützung brauchst, aber ich kann dir dein Leid nicht abnehmen. Aber du schon."


Niemand kann vor dem Leben verschont werden, vor Enttäuschungen, Niederlagen, Tod und Ängsten. Jeder von uns muss lernen selbst damit fertig zu werden.


Selbstmitleid lähmt und schafft Resignation

Es ist nicht sonderlich schwer negative Gedanken und negative Gefühle zu produzieren. Falsche Bewertungen/Deutungen nähren gekonnt unser Selbstmitleid und halten es am Leben. Es sind in erster Linie wir selbst mit unseren falschen Annahmen, Unterstellungen und Vorurteilen die uns selbst verletzen! Diese Lebensmut-Energie, die wir verfüttern, fehlt schlussendlich. Es ist enorm anstrengend! So lässt man sich treiben und wird verantwortungslos.


Es gibt ein skandinavisches Sprichwort: Der Nordwind hat die Wikinger geschaffen. Jeder Mensch trifft auf Wiederstände im Leben. Es ist eine falsche Annahme, dass es uns ewig glücklich macht, wenn wir keine Schwierigkeiten mehr hätten. Im Gegenteil, Charakter und Glück fällt denen zu, die ihre Verantwortung tapfer auf sich nehmen, ganz egal in was für Umständen sie sich befinden! Wer sich selbst bemitleidet, jammert auch dann noch, wenn er auf einem Samtkissen liegt. Wer fordert, der kann fördern und Wikinger hervorbringen, Unterforderung stresst.


Übertriebene Selbstliebe und Selbstverwöhnung

Im Selbstmitleid versinken ist eine Art Selbstbefriedigung. Durch das Mitleid mit mir selbst, spende ich mir selbst Liebe, Trost, Entschuldigungen, eine wohlige Wärme und gebe mir das Recht mir «Gutes» zu tun, oder Lästiges nicht mehr zu tun, weil ich ja schon so leiden muss. So muss ich keine Zuwendung von anderen erwarten, was wiederum stabilisiert und gesunde Unabhängigkeit schafft.


Selbstmitleid bedarf eine sehr egoistische Sicht, ein Kreisen um sich selbst. Man verschafft sich eine Sonderrolle. Man nimmt sich selbst raus aus der Gemeinschaft und schaut nicht mehr auf andere, fühlt sich nicht mehr für seinen Teil verantwortlich, hat sich selbst ent-schuldigt. Klagesüchtige habe die meisterhafte Fähigkeit erlernt alles negativ auszulegen und sich selbst dafür zu trösten/verwöhnen. Da es ein solch grosser Gewinn und Bedeutung für sie ist, wird es unheimlich schwierig werden, dies zu ändern.


Selbstverletzung und Ideale

Mit Selbstmitleid füge ich mir auch selbst Leid zu. Ich leide nicht nur mit mir mit, es widerfährt mir auch. Ich helfe mir ja nicht, ich bleibe im Leid! Ich sehe nur das und nur das Leid ist von Bedeutung in meinem Leben. Ich sehe nichts anderes mehr.


Wenn man ständig um sein Problem kreist, es loswerden will, wird man sich immer darauf fixieren. Solange es immer nur um den Wunsch geht, das Problem nicht mehr zu haben und nicht mehr zu leiden, werden wir uns immer selbst verletzten, bzw. die Wunde offen lassen. Je idealer wir uns unser Ziel ausmalen, desto intensiver werden wir danach streben, desto mehr werden wir in Selbstmitleid und Selbstverletzung fallen, wenn wir es noch nicht haben. Wir zerfleischen uns auf dem Weg zum Ideal, weil wir noch nicht ideal sind oder unsere Umstände. Wir glauben es sein zu müssen, oder andere, oder unsere Umstände, um wirklich Sein zu dürfen.


Perfektionismus und Idealismus scheinen zwar sehr edel, doch sind chronischer Selbstmord. Je höher die Ideale und Ziele, desto tiefer die Enttäuschung und das Selbstmitleid.


Opferbereitschaft wird gerne auch gerade von Christen als hohes Ideal, als selbstlose Gesinnung gesehen. Doch wenn ich perfekt sein möchte, wird jede Unvollkommenheit mir schwer zu schaffen machen. Für jeden Fehler, Behinderung, die zu meinem Ideal gehören, mache ich mich verantwortlich, damit gebe ich mir ein Gewicht, das ich gar nicht habe. Und das Übergewicht lastet zusätzlich auf mir. Wenn ich meine utopische Vorstellung nicht aufgebe, mache ich mich unglücklich.


Zum Verhängnis wird es, wenn man selbst sehr idealistisch durchs Leben geht, automatisch vom anderen verlangen wird, ebenso aufopferungsbereit für diese Ideale zu sein. Man überfordert sich und den anderen. Das Problem sind dann nicht die anderen, sondern die utopische Idealeinstellung. Der erzwungen perfekte Himmel auf Erden, kann so schnell zur Hölle der Resignation und Depression werden.


Ein paar Worte noch zum Sucht-Erkrankten, da im 1 Teil auch über Co.-Abhängigkeit gesprochen wurde.


Alkohol oder allgemein Suchtmittel bilden einen immer wiederkehrenden Teufelskreis mit Selbstmitleid. Die Sorgen werden eingenebelt, sinnbildlich in Alkohol ertrunken oder schön getrunken. Man will flüchten. Wenn die Ernüchterung wieder eintritt ist das Leid doppelt so gross und wird mit bekanntem Sorgenmittel erneut "ertrunken".


In der Bibel finden wir in den Sprüchen 23,29-35 (GNB) diesen Kreislauf hervorragend auf den Punkt gebracht:

29 Willst du wissen, wer ständig stöhnt und sich selbst bemitleidet? Wer immer Streit hat und sich über andere beklagt? Wer glasige Augen hat und Verletzungen, die er sich hätte ersparen können? 30 Das sind die, die bis spät in die Nacht beim Wein sitzen und keine Gelegenheit auslassen, eine neue Mischung zu probieren. 31 Lass dich nicht vom Wein verführen! Er funkelt so rot im Becher und gleitet so angenehm durch die Kehle; 32 aber dann wird es dir schwindlig, als hätte dich eine giftige Schlange gebissen. 33 Du siehst Dinge, die es gar nicht gibt, und redest dummes Zeug. 34 Du fühlst dich wie auf stürmischer See, wie einer, der im Mastkorb eines Schiffes liegt. 35 Wenn du wieder zu dir kommst, sagst du: »Man muss mich geschlagen haben, aber es hat nicht wehgetan. Man muss mich verprügelt haben, aber ich habe nichts gespürt! Wie werde ich nur wach? Ich brauche einen Schluck Wein, ich will wieder von vorn anfangen!«


Der Neurotiker, der versucht gegen sein Selbstmitleid anzukämpfen, kämpft einen ähnlichen Kampf wie der Süchtige, der versucht von der Abhängigkeit loszukommen. Die Klagesuch beinhaltet ja eine Sucht. Wenn die Therapie zur Entwöhnung von Drogen mit der Neurose gleichgesetzt wird, dann muss der Neurotiker seine Impulse zum Selbstmitleid und Klagen unterdrücken, um im Teufelskreis auszusteigen. Der Kreislauf hält sich am Leben, weil das Selbstmitleid immer genährt wird. Das Bedürfnis muss ausgehungert werden, der Betroffene Klage-Abstinent werden. Das Bedeutet das der Betroffene aufhören muss alles negativ zu sehen und darauf sich selbst zu verwöhnen, verhätscheln, ein falsches Wohlwollen zuzufächeln.


Ein Süchtiger kultiviert eine Art Selbstverliebtheit, deshalb ist er süchtig danach. Wer will schon (Selbst-)Liebe opfern? Deshalb werden Aussenstehende mehr als einmal auf energischen Wiederstand stossen. Das Verhalten, die Selbstsucht, wird rationalisiert und entschuldigt. Der Klagesüchtige wird versuchen zu beweisen, dass er zu Recht auf sein Lebensunglück reagiert.


Scheinreue

Im Selbstmitleid tue ich mir leid, aber ich bereue nicht. Selbstmitleid ist eine Scheinreue, oberflächlich, unehrlich, ich mache mir selbst etwas vor. Der Apostel Paulus unterscheidet zwischen der gottgewollten und der weltlichen Traurigkeit (Bibel 2. Kor. 7,10). Die Gesinnesänderung, die mit Reue geschieht, die Gottes Vergebung braucht, erzeugt durchaus eine «gottgewollte» Traurigkeit. Wir tun dabei Busse. Wir bereuen unser Tun, bitten um Vergebung und bemühen uns mit Gottes Hilfe um eine Veränderung. Die weltliche Traurigkeit ist fruchtlos, eine Falle des Teufels und zeigt sich im Teufelskreis des Selbstmitleids.


Es gibt u. a. 3 Möglichkeiten gegen Selbstmitleid


Der erste Schritt zur Veränderung ist die Einsicht. Begegnet man dem Selbstmitleidende mit Vorwürfen und Kritik, wird er sich gegen die Verständnislosigkeit wehren. Auch wer die angeblichen Leiden bagatellisiert oder Ratschläge gibt, stösst auf Abwehr. Der Klagesüchtige wird sich nicht ernst genommen fühlen, denn er ist von seiner Not überzeugt! Die Selbsteinsicht zu mobilisieren, ohne Zwang, das ist die Kunst! Klagesüchtigen muss man zustimmen, damit sie erst Mal Ruhe geben! Denn erst wenn der Kläger sich verstanden und ernst genommen fühlt, ist eine Offenheit zur Veränderung möglich.


Selbstmitleid und seine Symptome verfolgen immer bewusste und unbewusste Ziele. Z.B. Beachtung (für Nöte, Nachsicht, Rücksicht) oder Entschuldigung (für Schmerzen, Antriebslosigkeit, Abschieben von Verantwortung). Erkennt der Klagesüchtige das Ziel seines Selbstmitleids, kann er seine Bedürfnisse annehmen und sein Handeln korrigieren, wenn er in einem nächsten Schritt bereit dazu ist. Welche Möglichkeiten sehen Sie selbst, ihre verständlichen Klagen zu reduzieren, ihr falsches Selbst-Verwöhnen zu beenden, um ihr Wohlbefinden tatsächlich zu steigern?


Die Paradoxe Intention gehört zu den gängigen therapeutischen Methoden. Dabei ermutigt der Therapeut den Klagesüchtigen sich selbst auf die Schippe zu nehmen und zu ironisieren! «Keinem geht es so schlecht wie mir! Gar niemand versteht mich! Nicht mal Gott!» Es brauch dabei sehr viel Fingerspitzengefühl, aber wenn es gelingt, merkt der Klagesüchtige, wie lächerlich, unwürdig und übertrieben er sich verhält. Plötzlich schafft er eine innere Distanz und kann über seinem Problem stehen. Das mildert sein Leid und er merkt, dass er sich aufgespielt hat.


Das neurotische Verhalten im Selbstmitleid ist eine Ich-Sucht, in dem das eigene Leid im Zentrum steht. Wer erkennt, dass er durch sein Klagen einsam wird, kann sich zu einer neuen Einstellung entschliessen. Am meisten hilft dem Ich-Süchtigen, wenn er sich um andere kümmert! So verliert er den Tunnelblick für sich selbst. Bei anderen gewinnt er so Anerkennung, Zuwendung und Bestätigung, wonach sich sein Herz so sehnt!




Selbstmitleid überwinden - wieder anderes sehen, als nur sich selbst und die Dunkelheit

Nach einer Theorie von G.J.M. van den Aardweg zeigen sich vier Gesetzmässigkeiten des Selbstmitleids:


  1. Stetigkeit

  2. Gleichwertigkeit

  3. Verteidigung der Klagen

  4. Ich-Zentriertheit der Aufmerksamkeit


1. Die Stetigkeit der Klagen

Das Klagezentrum ist immer aktiv. Die Wahrnehmung ist stets mit einem negativen Filter behaftet. Wenn es nicht ausgesprochen wird, so sind die Gedanken immer von negativen Gefühlen wie Sorge, Vorurteile, Rastlosigkeit, Angst, Pessimismus begleitet. Eine gute Übung für die betreffende Person ist, sich selbst für 10-15 Min. bezüglich der eigenen Gedanken und Gefühle zu beobachten. Besonders die Negativen.


2. Die Gleichwertigkeit der Klagen

Während einer Therapie kann z. B. ein psychosomatisches Problem verschwinden, aber gleichzeitig sich die Klagesucht in einem anderen «Problem» verstärken. Der Klagesüchtige braucht irgendetwas worüber er sich beklagen kann. Dabei sind alle Arten von Problemen gleichwertig ersetzbar. Wenn solche Menschen schlechte Nachrichten hören, bedienen sie sich direkt davon und beziehen sie auf sich, in dem sie z. B. sagen, dass die Kinder keine gute Zukunft mehr haben werden, dass es ihnen selbst genau so ergeht, wie der armen Frau im TV, dass sie glauben auch in Gefahr zu sein etc. Sie werden immer fündig.

3. Die Verteidigung der Klagen

Der Klagesüchtige sieht sich stets als Opfer, benachteiligt, betrogen. Er sieht sein Pessimismus eher als Realismus. Er will nicht wahrhaben, dass er unter Selbstmitleid leidet. Sofort geht er in Verteidigung und Rechtfertigung. Was er sehnsüchtig sucht sind Menschen, die sich in das Elend einfühlen können, ihn verstehen, ihm zustimmen. Er will und erwartet Bestärkung und Bestätigung.

4. Die Ich-Zentriertheit der Aufmerksamkeit

Der Selbstmitleidige Mensch beansprucht enorme Aufmerksamkeit und provoziert andere diese extreme Ich-Zentrierung auszuhalten. Er ist immer sehr dramatisch, denn seine Erfahrung lehrt ihn, dass er andere vom Leid überzeugen, ja zum Mitleid erziehen muss. Denn sein Leid ist wichtiger, schmerzhafter, schlimmer als alles andere. Die Position des anderen hat in seiner Wahrnehmung keinen Platz, er kann deren Bedürfnisse nicht mehr sehen. Deshalb sind Klagesüchtige schnell am Rande der Gesellschaft. Ihre Ich-Zentriertheit ist Gift für die Liebes- und somit für die Gemeinschaftsfähigkeit. Mit einem Klagesüchtigen in der Beziehung, ist man schnell am Rande der Resignation.


Selbstmitleid kann die Folge einer übergrossen Hilfeleistung sein, die aufgedrängt und nicht mit Dankbarkeit beantwortet wird. Das ist das Leid des Co.-Abhängigen. Seine Aufopferung wurde nicht gewürdigt. Paradoxerweise übergehen jene mit ihrem Verhalten die Würde des anderen. Gerade bei Suchtkranken sind ja die Co-Abhängige nicht weit, die ein starkes Retter-Bedürfnis haben. Sie geben sich dabei übertrieben führsorglich, verfolgen unbewusst das Gefühl gebraucht zu werden, mischen sich ein, denken, planen und fällen ungefragt Entscheidungen für den anderen.


Das Retter-Verfolger-Opfer-Drama - Ich habe alles geopfert

Ein Beispiel dazu. Eine Frau hat sich zur Lebensaufgabe gemacht ihre drei Kinder zu erziehen. Da ihr Mann beruflich viel unterwegs war, traten die Kinder an seine Stelle und sie verwöhnte sie so sehr, dass sie für sie ihr letztes Hemd gegeben hätte. Die Kinder sollen einen Partner-Ersatz sein. Dann ist dieser Platz neben der Frau tatsächlich besetzt. Das Ergebnis zeigt sich in einer Affäre ihres Mannes, Scheidung ihrer ältesten Tochter, die Mittlere ist vor dem Selbstmitleid der Mutter geflohen und der Sohn macht ihr Vorwürfe, dass sie nicht an sich selbst denkt. Was ist passiert?


1. Sie hat alles für ihre Kinder getan.

Durch das Verwöhnen, hat sie verzichtet. Sie hat sich selbst zur Sklavin gemacht, aufgeopfert. Die Kinder nehmen und danken nicht, da es normal ist das Mama macht und sich ungefragt aufdrängt.


Viele Christen sind auch gerne Retter oder Kümmerer. Nach dem Modell Karpman-Drama-Dreieck von Stephen B. Karpman, ist das die erste Ecke des Dreiecks - der Retter rettet ein vermeindliches Opfer. Rettertypen nehmen sich gerne andere an und lösen ihre Probleme, nehmen ihnen ihre Verantwortung ab, weil sie dem anderen Mal unterstellen, selbst nicht fähig dazu zu sein. Der geschwächte Hilfesuchende nimmt diese Vereinnahmung zuerst auch dankbar an. Er muss nichts tun, kann sich fallen lassen, der Retter nimmt alles in die Hand.


2. Wer sich aufopfert und dafür Gegenliebe und Dank erwartet, wird enttäuscht werden.

In der Aufopferung liegt der Gewinn gebraucht zu werden. Der Aufopfernde sucht Bestätigung und Liebe in seinem Tun. Er drängt sich damit förmlich auf, bevormundend, ist zwanghaft, übergriffig. Der Mann flüchtet hier vor der Vereinnahmung seiner Frau in die Arbeit. Doch sie versteht nicht und deutet ihr Tun als Liebe. Die zweite Ecke beginnt mit dieser unerwarteten Reaktion des Hilfesuchenden, des "Opfers", der nicht mehr dankbar reagiert, irgendwann Bedingungen stellt und den ungefragten Rat verschmäht. Das Wohlwollen, Mitleid und aufgedrängte Tun schlägt ins Gegenteil um, das Opfer wehrt sich gegen den Retter, erlebt ihn plötzlich als Verfolger. Die zweite Ecke des Dreiecks - Der Retter wird zum Verfolger.


3. Aufopferung endet häufig in Selbstmitleid

Je mehr wir uns jemandem aufdrängen, desto rebellischer wird dieser sich abwenden. Es wird nicht mehr gefragt, sondern übergangen. Viele Verfolgte sagen zu spät stopp, fliehen und kränken so den Opferbereiten. Der Retter der des Guten zu viel tut, erntet Undankbarkeit und zerfliesst in bittere Enttäuschung und Selbstmitleid. Er fühlt sich hilflos, voller Sorge, Schmerz und Scham, da er nicht gewürdigt wurde. Darauf läuft der Retter in die dritte Ecke des Dreiecks - Der Retter wird selbst zum Opfer.


2.1. Ein Lösungsimpuls: Wir können unsere eingefahrenen Denkmuster ändern

Wir können unsere eingefahrenen Denkmuster und Lebensprobleme durch Umdeutung ändern, wenn wir ernstlich eine Änderung wollen.


Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.

Deutsches Sprichwort


…und fehlt der Wille, kann auch kein neuer Weg beschritten werden. Wer nicht will, hat keine Einsicht und umgekehrt.


Doch wo ein Ziel ist, ist immer ein Wille!

Psychiater Viktor E. Frankl


Aus amerikanischen Langzeitstudien (über 14J.) ging hervor, dass Menschen, die einen Partner verloren haben und sich mit dem Verlust nicht abfinden können, ein 5-10-faches Krebsrisiko zeigen. Wir müssen unser Denken ändern! Besonders wenn wir zum Grübeln neigen. Die Seele leidet so lange und fügt sich und dem Körper schaden zu, bis sie ihr Schicksal akzeptieren kann!


Akzeptieren ist nicht Resignieren. Akzeptieren bedeutet hier seine Umstände annehmen, wie sie sind. Altes loslassen, wieso und aber loslassen, sich dem zuwenden was oder wie es jetzt ist. Der Seelische Unfriede ist Stress für den Körper, er schwächt das Immunsystem und öffnet Türen für Krankheiten. Seelisches Gleichgewicht ist der Friede, den wir uns alle so wünschen! Dieses Gleichgewicht ist in erster Linie Beziehungspflege zu sich selbst und zu Gott. Wer im Seelischen Gleichgewicht lebt, praktiziert Zufrieden- und Gelassenheit. So sind Körper, Seele und Geist im Einklang.


So wie Erlebnisse, Krisen, Konflikte und Verhaltensmuster gedeutet werden, werden sie erlebt. Wenn ich beginne alles aus der Perspektive von Gott zu sehen, kann ich die selben Gegebenheiten anders betrachten und bewerten. In jeder Stärke ist unsere Schwäche und umgekehrt. Ich könnte z. B. erkennen, dass meine Angst auch sein darf, ich muss nicht nicht Angst haben. Sie ist ok. Sie hilft mir auf alles gefasst und vorbereitet zu sein. Ich darf auch empfindlich sein, ich bin ein sensibler Mensch. Ich spüre mehr als andere.


So kann ich mich mit mir aussöhnen, dass relativiert die Schwächen meiner Stärken. Gott mutet es mir zu, weil er mir zutraut meine Stärke, die gleichzeitig auch meine Schwäche ist, tragen zu können. Das gleiche gilt dem Selbstmitleid. Mache ich mein Thema zum Problem, bekomme ich ein Problem! Gestehe ich mir ein, dass ich mich doch vielleicht ein bisschen selbst bemitleide und das zu mir gehört wie Nasenbohren, relativere ich deren Bedeutung.



Quelle:

Gelassen durch den Tag, Die Kunst trotz allem Gelassen zu sein, Reinhold Ruthe, 2016, Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers, Definition Neurose: https://www.meinmed.at/krankheit/neurosen/2105#:~:text=Neurosen%20sind%20psychische%20St%C3%B6rungen%2C%20bei,(z.B.%20L%C3%A4hmungen)%20k%C3%B6nnen%20auftreten.





Comentarios


bottom of page