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Zwanghaft glücklich sein müssen: Vom Recht und Freiheit unglücklich zu sein

Dieser Text handelt vom befreienden Gefühl das eigene Unglück bejaen zu dürfen, nicht zwanghaft glücklich sein zu müssen. Die Tücke unserer Positivitäts-Gesellschaft mit dem ewigen Streben nach Glück.

Zwanghaft glücklich sein müssen - nachdenken am See

Inhalt




1. Zwanghaft glücklich sein müssen

Unsere Welt und Kultur ist sehr Glücksbesessen. Lebensglück wird stets zelebriert. Fotos auf Social Media, meist Ferienbilder, strotzen nur so vor lachenden und schönen Menschen – von harter Lebensrealität keine Spur. Kein Wunder, Glück zieht an, macht attraktiv! Positivität ist ja grundsätzlich etwas Gutes, permanentes Glück aber unrealistisch.


Bei Empfehlungen für ein Profil auf Partnerschaftsbörsen solltest du dich unbedingt mit humorvoll, Spass am Leben und glücklich beschreiben. Dies verspricht Erfolg bei der Partnersuche, denn wir Menschen wollen mit glücklichen Leuten zusammen sein. Das nützt auch bei Bewerbungen. Die positive Einstellung bzw. Erwartung, das ist das A und O! Es reicht also nicht, wenn du nur gut in deinem Job wärst. Du solltest dabei auch noch Spass haben, vor Freude stahlen, die Vision der Firma mit Begeisterung teilen, also restlos glücklich sein mit dem was du tust! - Was für ein Stress! Es ist ein erheblicher Druck im öffentlichen und privaten Leben stets glücklich sein zu müssen.


Nun es stimmt wirklich, dass positiv eingestellte Menschen auch eher positive Lebenssituationen erleben. Eine Frieda Fröhlich, die ihre guten Seiten sieht, wird mit höherer Wahrscheinlichkeit eine Job-Chance erhalten, als ein Trudi Traurig mit Negativblick. Es hat etwas von selbsterfüllender Prophetie im Optimismus und Pessimismus. Du ziehst das an, was du erwartest. Dieses offene Geheimnis wird in unzähligen Ratgebern, TV-Shows und von selbsternannten Gurus gepredigt!


«Positives Denken» ist schon fast eine Glaubensbewegung geworden. Weil positive Gedanken positive Gefühle anregen, zieht das positive Erfahrungen an. Eine Glückspirale, wie man sagt. Das selbe mit Negativem, die Unglücksspirale. Darum denke stets positiv, so das Credo, erwarte immer das Beste! Jeder Gedanke soll sofort und wenn nötig mit Gewalt abgewürgt und jenem kein Raum gegeben werden! Das zieht sonst Unglück an!


1.1. Wie die Bibel das Klagen bejat

Was meint Gott dazu? In der Bibel lesen wir Psalm 13, 2-6:

HERR, wie lange willst du mich so ganz vergessen? Wie lange verbirgst du dein Antlitz vor mir? Wie lange soll ich sorgen in meiner Seele und mich ängsten in meinem Herzen täglich? Wie lange soll sich mein Feind über mich erheben? Schaue doch und erhöre mich, HERR, mein Gott! Erleuchte meine Augen, dass ich nicht im Tode entschlafe, dass nicht mein Feind sich rühme, er sei meiner mächtig geworden, und meine Widersacher sich freuen, dass ich wanke. Ich traue aber darauf, dass du so gnädig bist; mein Herz freut sich, dass du so gerne hilfst. Ich will dem HERRN singen, dass er so wohl an mir tut.


Was für ein Verstoss von David, dem berühmten Psalmist, der hier am positivem Denken verbricht! Die Hälfte aller Psalmen sind Klagepsalmen. Anscheinend wollte es Gott so, dass wir diese so ungeschönt in der Bibel finden. Die Psalmisten erlaubten sich laut und deutlich unglücklich zu sein, erlaubst du dir das auch? Wann leistest du dir den Luxus in unserer heutigen Zeit hin und wieder richtig unglücklich zu sein?


Es scheint so unerhört, so frech in einer Kultur, wo Lebensfreude und Überfluss so zelebriert wird! Nun gemeint ist nicht in Schwermut zu schwelgen, sondern angemessen auf bestimmte Lebensumstände reagieren zu dürfen. Es ist keine Schande mal richtig unglücklich zu sein und kein Spass am Leben zu haben. Im Gegenteil! Auf bestimmte Lebensereignisse sollte man wirklich nicht mehr positiv reagieren. Man sollte sich der eigenen Not und Verzweiflung stellen können.


Genau das ist das Problem der Ideologie des Positiv-Denkens. Jeder hat logischerweise lieber positive Gedanken, Gefühle und Situationen. Jeder will in einer Welt voller Glück leben. Doch das verzwickte ist einfach, dass dies nicht die reale Welt ist in der wir leben! Unsere Welt gibt uns nicht immer Anlass für positive Regungen. In der Positiv-Denk-Ideologie werden die eigenen negativen Regungen teilweise regelrecht verboten. Dieses Verdrängen von Negativem, überspielen und nicht stellen, ist extrem gnadenlos sich selbst gegenüber. Tabuisierung ist zu tiefst ungesund, denn Verleugnung der Realität birgt die Entfremdung von sich selbst.


Negative Empfindungen sind nichts was man sich wünscht oder geniesst, aber sie sind wichtig und richtig als Reaktion auf Erlebtes. Genau dies ist die Einsicht der Klagepsalmen. Da sind Menschen, die sprechen ihr Unglück aus.


David steht zu seinem Unglück in der Gegenwart von Gott. Er bringt es vor Gott, weil es mit seinem Glauben etwas macht. Er hat Zweifel am Wohlwollen Gottes. Kennen wir das nicht, dass wir das Gefühl haben Gott tut nichts und schaut nur zu? Darf man sich so Gott gegenüber äussern? Anscheinend schon.


Auch Jesus selbst hat in seiner dunkelsten Stunde, nach Folter und Verleugnung zu Gott geschrien: „Eloi, Eloi, lema sabachtani“, „mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ – so beginnt der grosse Passionspsalm 22. Jesus hatte sich nicht für einen Lob- oder Dank-Psalm und positives Denken entschieden. Er ist nicht am Kreuz gehangen und hat «look at the bright side of life» gesungen. Das ist die Ironie in der Idee, es müsse in allem etwas zwingend positives haben; spätestens, wenn du gefoltert am Kreuz hängst, weisst du, das ist falsch.


Es gibt Situationen wo es nichts Glückliches mehr abzugewinnen gibt, plötzliche Krankheiten, wenn ein Kind vom Auto überfahren wird, etc. Es gibt Situationen wo es wirklich angemessen ist unglücklich zu sein. Die Klagepsalmen zeigen uns, wie wir damit vor Gott kommen können. Klagen ist zwar das Gegenteil von positivem Denken, es ist aber keine Hoffnungslosigkeit. Klagen ist Ausdruck von Hoffnung! Wer noch zu Gott geht und klagt, der kämpft, der hat noch Hoffnung! Wer aber Hoffnung verliert, der sagt nichts mehr, wird apathisch, zynisch. «Es darf doch so nicht sein!» Wer klagt, rennt trotzig zu Gott und bei Gott kann neue Hoffnung aufkeimen.




zwanghaft glücklich sein müssen - Klagemauer in Israel

2. Ertragen und das Tragen von anderen

Es gibt unterschiedliche Klagepsalmen. Jene, welche die Not von mehreren beinhalten, aber auch solche von einzelnen. In jüdischen Gottesdiensten wurde gemeinsam die Klagepsalmen für einzelne gesungen. Diese Tatsache, dass sich eine Gemeinschaft mit dem Leid eines einzelnen solidarisiert und dem einzelnen zugesteht verzweifelt zu sein und es erträgt, spricht von einer wahren Grösse.


Es gibt immer wieder Leute, die sich aus Kirchen zurückziehen und später wiederauftauchen, meist aufgrund von Krisen oder Zweifel. Das Bedürfnis sich zurückzuziehen, ist völlig verständlich. Aber es macht nachdenklich, dass Leute vielleicht nicht willkommen sind, die in Ehekrisen sind oder Glaubenszweifel durchleben, ohne dass sie von uns zurechtgerückt werden. Müssen wir immer Leid erklären? Dürfen jene Leute nicht einfach sein? Da ist wieder dieses Gnadenlose. Die Positiv-Denk-Community sagt ja, dass unglückliche Menschen ihr Unglück ja selbst herbeigeführt haben! Das ist nicht sehr ermutigend. Dann geht es dir nicht nur voll schlecht, so wird dir auch noch vermittelt, dass du noch selbst daran Schuld hast.


Viele von uns Christen haben auch den Impuls zu unterstellen, man hätte zu wenig gebetet, zu wenig mit Gott gelebt, zu viel gesündigt, etc. Können wir auf diesen Impuls verzichten, sofort eine Erklärung für Unglück zu haben? Es zwar gut gemeint. Doch jemand, der in einer Depression ist, der braucht keine Lösungsgeber, er braucht eine Gemeinschaft, die jemanden nicht ausschliesst nur weil derjenige nicht gerade dieselbe Gefühlslage teilt. Wir Christen müssen nicht perfektes Lebensglück vermitteln, aber wir können mittragen und Hilfe anbieten. Wir sind berufen an Gott festzuhalten, wenn Lebensglück verloren geht. Manchmal müssen wir für andere hoffen oder Hoffnung aussprechen, wenn diejenigen nicht mehr kämpfen mögen. Wir müssen ihnen nicht immer zureden, sondern dürfen sie einfach mittragen, so dass Not und Leid nicht das letzte Wort haben.


2.1. Klagemauer

In den Klagepsalmen lesen wir oft noch von einem Keim Hoffnung und so soll es sein, ein kleiner Umschwung. Der Weg von Not und Verzweiflung über Klagen führt in einen neuen Umschwung.


Dies soll keine Anti-Freund-Bewegung sein, wenn du gerade sehr gesegnet bist! Geniesse das unbedingt! Aber wenn es dir nicht gerade so gut gehen sollte, will ich dir einen kleinen Input mitgeben. Nimm doch einen Zettel und verbalisiere dein Unglück oder das eines anderen und hefte es an eine temporäre «Klagemauer». Gib dem Leid Ausdruck, wenn du oder jemand anderes in einer tieferen Krise steckt. Sei dir gewiss, dass Gott diese Klagemauer liest und mit dir oder demjenigen, den es betriff, durchsteht.


Podcast - ICF Basel, Serie Die Hoffnung stirbt zuletzt, Manuel Schmidt, Klagen – oder: vom Recht, unglücklich zu sein, 13.08.2017




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